Blogbeitrag von
Tim Müller, Senior Consultant, Cassini Consulting AG
Tim Müller
Senior Consultant
Stefan Wahl, Cassini Consulting
Stefan Wahl
Consultant
Artikelreihe Robotic Process Automation in Retail, Teil 2
Artikelreihe | Robotic Process Automation in Retail

Die Kunst der Prozessauswahl: Strategien für erfolgreiche RPA-Implementierungen

Im zweiten Teil unserer Artikelreihe beleuchten wir die Anforderungen und Schritte zur Identifikation geeigneter Prozesse und gehen auf mögliche Bewertungskriterien zur Prozessauswahl für RPA-Maßnahmen ein. Ebenfalls werden wir die Potenziale und Anwendungsmöglichkeiten von Process Mining in den Phasen von RPA-Maßnahmen darstellen.

Die Bewertung geeigneter Prozesse findet in den Dimensionen Komplexität und Nutzens statt 

Eine der größten Herausforderungen und zugleich auch der häufigste Grund für das Scheitern von RPA-Projekten ist die Auswahl geeigneter Prozesse. Um Automatisierungsideen effektiv umzusetzen, ist eine Vorauswahl von Prozessen, die für die Implementierung in Frage kommen, essenziell. Im folgenden Abschnitt wollen wir daher klären, welche Eigenschaften einzelne Aufgaben eines Prozesses aufweisen müssen, damit diese sich für eine Automatisierung oder Teilautomatisierung eignen. 

Um eine Grundauswahl an potenziellen Prozessen zu treffen, können die „Rule of Five“ von Craig Le Clair (2018) herangezogen werden. Diese besagen, dass in eine Automatisierung nicht mehr als fünf Entscheidungen eingebaut sein sollen, dass nicht mehr als fünf Anwendungen verbunden sein sollen und dass eine RPA-Aufgabe nicht mehr als 500 Klicks beinhalten sollte. Diese Regeln beschreiben vor allem die Dimension Komplexität der Umsetzung.  

Automatisierungsprojekte von geringer Komplexität lassen sich im Allgemeinen ohne umfangreiche Anpassungen innerhalb des RPA-Tools realisieren und umfassen Aufgaben wie das Scrapen von Webseiten oder Bildschirminhalten. Sobald jedoch Daten zwischen einer oder mehreren Anwendungen ausgetauscht werden müssen, steigt die Komplexität auf ein mittleres Niveau. Hohe Komplexität tritt auf, wenn Programmierkenntnisse sowie Erfahrung mit gleichartig strukturierten Daten (Arrays), Datenbanken, Datenformaten und Emulatoren (z.B. Testumgebungen) erforderlich sind. Ohne diese Fähigkeiten kann es schwierig sein, effektive Lösungen für anspruchsvolle Probleme zu entwickeln. Schließlich dienen sie als Grundlage, komplexe Datenstrukturen zu verstehen, zu manipulieren und zu verarbeiten. 

Werden Prozesse nach ihrer Komplexität bewertet, sollte im ersten Schritt die Existenzberechtigung der zu diskutierenden Prozesse geklärt werden. Standardisierungen sollten durchgeführt werden, bevor es zu einer Automatisierung kommt. Ist eine projektunabhängige Veränderung an einem Prozessablauf geplant, sollte diese Änderung zunächst durchgeführt werden, bevor über eine Automatisierung nachgedacht werden kann. Ebenfalls sollten nicht-digitale-Prozesse zunächst digitalisiert werden. 

Nachdem in der Dimension der Komplexität die Eliminierung und die Vereinfachung von Prozessen im Vordergrund steht, liegt der Fokus der zweiten Dimension auf dem Nutzen der Automatisierung. Hier greifen klassische Bewertungskriterien, wie Kosteneinsparungen durch FTE-Reduzierungen, höhere Agilität, verringerte Durchlaufzeiten und ein erhöhtes Volumen an verarbeiteten Prozessen. Roboter werden bei einer Fehlerquote von 0% zu einer enormen Qualitätsverbesserung in der Bearbeitung von Prozessen führen und bieten je nach beispielsweise saisonalen Einflüssen die Möglichkeit, das Volumen nach Bedarf zu erhöhen oder zu verringern.  

Komplexität-Nutzen-Verhältnis

Insgesamt sollte festgehalten werden, dass das Ziel einer Automatisierung nicht unbedingt die komplette Ablösung menschlicher Arbeit ist, sondern eher als eine Veränderung bestehender Prozesse gesehen werden kann, in der Roboter einzelne Schritte eines Prozesses übernehmen können. Nach Möglichkeit benötigen diese Prozesse ein hohes Transaktionsvolumen und einen hohen Standardisierungsgrad, sowie eine implizite Logik und einen hohen Reifegrad. Auch in Richtung Akzeptanz kann es für den Anfang sinnvoll sein, die 70% des Prozesses mit der geringsten Wertschöpfung zu automatisieren und die restlichen 30% von den Mitarbeitenden ausführen zu lassen. 

Wellmann und Kollegen (2020) beschreiben in ihrem Ansatz zur Bewertung geeigneter Prozesse fünf Charakteristiken, die nachfolgend aufgeführt und mit Beispielen versehen sind: 

Bewertung geeigneter RPA-Prozesse

Diese fünf Charakteristiken können weiterführend dabei helfen, die Liste der zuvor identifizierten potenziellen RPA-Prozesse zu verkleinern und die aus Anwendungssicht am besten geeigneten zu priorisieren. 

Process Mining identifiziert Prozessabweichungen, Engpässe und Ineffizienzen 

Wie bisher skizziert, ist die Auswahl geeigneter Prozesse für den Erfolg einer Automatisierung entscheidend. Gartner hebt in seinen Marktanalysen zum Process Mining hervor, dass diese Technologie zu den Schlüsselfaktoren von RPA-Implementierungen zählt. Sowohl die Visualisierung als auch der Kontext des Prozesses sowie das Erkennen und Priorisieren einzelner Tasks zur Automatisierung zählen zu den Erfolgsfaktoren.  

Das Process Mining ist eine datengesteuerte Technik der Prozessanalyse. Das Ziel des Process Mining ist die visuelle Rekonstruktion des tatsächlichen Flusses der Geschäftsprozesse anhand von Ereignislogs aus IT-Systemen, wie z. B. ERP, CRM oder Systeme für das Managen von Lieferketten. Nach Wil van der Aalst kann das Process Mining grundsätzlich in drei Arten differenziert werden. 

  1. Discovery: In der ersten Art wird das Prozessmodell ausschließlich auf Basis der Ereignislogs erstellt. Die Discovery ist die häufigste Anwendungsform des Process Minings.  
  2. Konformitätscheck: Hier erfolgt der Abgleich eines Prozessmodells mit den zugehörigen Ereignislogs. Das Ziel des Konformitätschecks ist die Validierung des Prozessmodells durch die Ereignislogs und umgekehrt.  
  3. Erweiterung: Die dritte Art fokussiert sich auf die Verbesserung bestehender Prozessmodelle mittels Informationen, die zu dem tatsächlichen Prozess aufgenommen wurden.  

In der Umsetzung von RPA-Maßnahmen ermöglicht Process Mining die Identifikation von Prozessabweichungen sowie von Engpässen und Ineffizienzen als Ansatzpunkte für Verbesserungspotenziale. Ebenfalls dient es dem Monitoring und der nachhaltigen Implementierung der RPA-Maßnahmen. Für das erfolgreiche Zusammenspiel von RPA und Process Mining empfiehlt sich ein dreistufiges Vorgehen, welches in der nachfolgenden Abbildung skizziert ist.  

Vorgehen: Zusammenspiel von RPA und Process Mining

Abb. Dreistufiges Vorgehensmodell zur Kombination von RPA und Process Mining in Anlehnung an Geyer-Klingenberg et. Al., 2018 

In der Bewertung geeigneter Prozesse für RPA-Vorhaben bietet Process Mining Möglichkeiten zur Betrachtung relevanter Kriterien, wie die Standardisierung und Skalierbarkeit und unterstützt in der Auswahl von Prozessen mit hohem Automatisierungspotenzial. Bei der Entwicklung der RPA-Anwendung ermöglicht das Process Mining die Evaluation der verschiedenen Roboter und Vergleichbarkeit dieser zur Identifikation der effektivsten RPA-Implementierung. Nach der Implementierung fördert das Process Mining die Sichtbarkeit von Prozessentwicklungen und notwendiger Anpassungen durch Einflüsse aus dem Geschäftsumfeld. 

Process Mining bietet wertvolle Einblicke in existierende Geschäftsprozesse, indem durch die Analyse von Systemlogs Ineffizienzen und Flaschenhälse identifiziert werden können. Die Erfolgsraten von Automatisierungen können durch den datengetriebenen Ansatz erheblich gesteigert werden. Trotz der großen Potenziale sollte klar sein, dass Process Mining – wenn nicht bereits im Unternehmen etabliert – hohe Implementierungsaufwände mit sich bringt und die Komplexität einer RPA-Umsetzung stark vergrößert. 

Die Artikelreihe geht weiter: Ausblick

In diesem Artikel haben wir das Auswahlverfahren geeigneter Prozesse für RPA-Implementierungen erläutert. Aus dem Blickwinkel der Umsetzbarkeit wurden verschiedene Parameter aufgeführt, deren Berücksichtigung die Chancen auf eine erfolgreiche Umsetzung von Prozess-Automatisierungen erhöhen. Im dritten Teil unserer Artikelreihe werden wir abschließend ein konkretes Beispiel aus der Inventarverwaltung von Retail-Unternehmen betrachten. An konkreten Automatisierungsbeispielen beschreiben wir, wie Regallücken in Geschäften minimiert werden und Automatisierungen somit einen direkten Einfluss auf den Umsatz des Unternehmens haben können.

Quellenverzeichnis 

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Doguc, O. (2019). Robot process automation (RPA) and its future. In Handbook of Research on Strategic Fit and Design in Business Ecosystems (pp. 469–492). IGI Global.  
Geyer-Klingeberg, J., Nakladal, J., Baldauf, F., & Veit, F. (2018). Process Mining and Robotic Process Automation: A Perfect Match. 
Jimenez-Ramirez, A., Reijers, H. A., Barba, I., & del Valle, C. (2019). A Method to Improve the Early Stages of the Robotic Process Automation Lifecycle. Lecture Notes in Computer Science (pp. 446–461). 
Lamberton, C., Brigo, D., & Hoy, D. (2016). Impact of Robotics, RPA and AI on the insurance industry: challenges and opportunities. In The Journal of Financial Perspectives: Insurance. 
Le Clair, C. (2018). Use The Rule Of Five To Find The Right RPA Process. Forrester, September.
Van der Aalst, Wil & Weijters, A. (2004). Process mining: A research agenda. Computers in Industry. 53. 231-244. 10.1016/j.compind.2003.10.001. 
Van der Aalst, W. et al. (2012). Process Mining Manifesto. In: Daniel, F., Barkaoui, K., Dustdar, S. (eds) Business Process Management Workshops. BPM 2011. Lecture Notes in Business Information Processing, vol 99. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-28108-2_19 
Wellmann, C., Stierle, M., Dunzer, S., Matzner, M. (2020). A Framework to Evaluate the Viability of Robotic Process Automation for Business Process Activities. In: Asatiani, A., et al. Business Process Management: Blockchain and Robotic Process Automation Forum. BPM 2020. Lecture Notes in Business Information Processing, vol 393.