SAFe oder LeSS?
Wenn Skalierung von Scrum, dann besser SAFe oder LeSS? Gute Frage, der sich auch Cassini-Berater Patrick Daut im Interview stellte. Ein Gespräch über die Vor- und Nachteile der beiden Frameworks, mit denen große Organisationen agile Entwicklungsmethoden an ihre Anforderungen anpassen. Es geht um klare Vorgaben, Freiheiten und: Gigantomanie.
Welche zentralen Fragen stellen sich bei der Skalierung von Agilität?
Zwei Fragen gehören unmittelbar zusammen. Die eine richtet sich auf die Wahl des passenden Frameworks als Tool. Die andere auf die Entwicklung der agilen Kultur im Unternehmen. Beides lässt sich nicht getrennt voneinander betrachten.
Darum stelle ich Kunden gleich zu Beginn die Frage: Was erwarten Sie? Was soll am Ende als Ergebnis stehen? Das Skalierungs-Framework selbst ist letztlich nur ein methodisches Stützrad, um Organisationen Agilität beizubringen.
Das Skalierungs-Framework ist also zweitrangig?
Ja, aber Frameworks können Unterstützung leisten. Sie geben Mitarbeitern eine Struktur an die Hand und damit Sicherheit. Die würden sie sonst schnell verlieren, was wiederum den Change-Prozess in der agilen Transformation erschweren würde.
Zumal die Einführung des Frameworks als Teil des Veränderungsprozesses auch die agile Kultur im Unternehmen fördern kann. Voraussetzung ist, dass man sich nicht nur auf die Abarbeitung des Handbuchs beschränkt, sondern an der Veränderung des Mindsets arbeitet.
Wenn es um das richtige Skalierungs-Framework geht, welches würden Sie empfehlen: SAFe oder LeSS?
Das hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Was will man damit erreichen? Wie groß ist die Organisation und welche agilen Erfahrungen liegen bereits vor? SAFe beschreibt sehr klar, wie der Prozess aussieht – mit allen Teilschritten bis zum Ergebnis. Es gibt eine ganze Fülle von Rollen vor und gibt hier Orientierung. SAFe ist sicher von Vorteil für Unternehmen, die mit Agile noch gar keine Erfahrung haben.
Und wie ordnen Sie LeSS ein?
Bei LeSS hilft es, Agilität schon zu leben. Die Vorgaben sind weniger konkret. SAFe sagt dir, dass du z. B. mit 100 von 300 Mitarbeitern in der Entwicklung ein organisatorisches Konstrukt namens Agile Release Train bilden sollst, das sich in einzelne Themen und vordefinierte Rollen aufsplittet. LeSS ist hier deutlich offener und lässt einem mehr Entscheidungsfreiheiten, was man mit den 300 Mitarbeitern anstellt. Andererseits bedeutet dies auch, eine eigene Vorstellung von der Anpassung zu entwickeln. Aber auch SAFe verlangt im Laufe der Einführung eigene Anpassungsleistungen.
Für mich ist die Frage des Einstiegspunktes zentral. Während SAFe mit seinen detaillierten Vorgaben dafür geeignet ist, von Null aus zu skalieren, ermöglicht LeSS eine Skalierung bestehender agiler Strukturen, ohne bereits gelebte Agilität zu gefährden. Für Mitarbeiter, die schon agil sind, kann die Einführung von SAFe viel Overhead bedeuten. Es könnte sie aus ihren agilen Strukturen reißen und sie dadurch ausbremsen. LeSS skaliert die vorhandene Agilität mit. Man entwickelt für die bestehenden Teams eine gemeinsame Sprache und stabile Grundlage, begrenzt sie dabei aber nicht durch neue Vorgaben und Rollen.
Mit einem agilen Framework allein schafft man noch keine agile Kultur.
Und wer fährt jetzt mit welchem Framework am besten? Gibt es bestimmte LeSS- und SAFe-Branchen?
Es gibt Branchen, in denen das eine oder andere Framework sinnvoller ist. LeSS passt gut in Branchen wie IT oder E-Commerce, also zu Unternehmen, die es gewohnt sind, sich schneller zu drehen. Der Startpunkt ist hier ein ganz anderer als in klassischen Branchen wie Banken, Versicherungen oder Unternehmen der Ingenieurdisziplinen. Hier findet eher SAFe Anwendung. Dort herrscht oft noch eine strikte Trennung zwischen ganzen Bereichen: Anforderungsmanagement hier, Entwicklung da und Test nochmal separat. Die Abteilungen sind hier in der Ausgangssituation nicht so flexibel miteinander verbunden wie etwa beim E-Commerce. So hat die Komplexität von SAFe durchaus auch den Vorteil, dass es Lösungsideen an die Hand gibt, wie man mit regulatorischen und branchenspezifischen Vorgaben umgehen kann, im Automotive-Bereich beispielsweise, wo Prozessmodelle eingehalten werden müssen.
Tatsächlich sind regulatorische Anforderungen ein wesentlicher Punkt: Wie hoch ist mein Bedarf an Governance und Compliance? Wenn ich eher in regulierten Märkten unterwegs bin wie im Finanz-, Automotive- oder öffentlichen Sektor, dann brauche ich eine gewisse Plan- und Nachweisbarkeit. Hier spielt SAFe seine Stärken aus. Organisationen, die eher innovationsgetrieben sind und einen hohen Bedarf an kurzfristiger Flexibilität bei hoher Volatilität im Markt haben, sollten über LeSS nachdenken.
Sehen Sie neben den jeweiligen Vorteilen auch Kritikpunkte bei SAFe bzw. LeSS?
Meine Kritik an SAFe ist der Hang zur Gigantomanie in den letzten drei Jahren. Das Framework wurde immer größer und komplexer. Damit sichert Scaled Agile Inc. durch notwendige Lizensierung und Trainings aber schlicht seinen Umsatz. Andererseits ist es das einzige Framework, das für richtig große Organisationen beschrieben wurde, für 100 Entwickler an einem Projekt und mehr. Es ist auch das einzige Framework, das sich mit Fragen wie Budgetierung oder Organisationszuschnitt zumindest beschäftigt hat.
Mein Hauptkritikpunkt an LeSS ist, dass es für eine richtig große Entwicklungsorganisation zu viel Freiraum und entsprechend zu wenig Führung vorsieht. Eine bewusste Entscheidung. Man muss sich aktiver damit auseinanderzusetzen, was zur agilen Transformation beiträgt. Zumal: Man hat keine andere Wahl, als sich mit agiler Kultur auseinanderzusetzen oder mit dem Produktzuschnitt. Mitarbeiter sind bei LeSS dafür auch deutlich näher am Produkt.
Welche Rolle spielt eine Beratung bei der Entscheidung für oder gegen ein Skalierungs-Framework?
SAFe und LeSS sind im Grunde Produkte am Markt. Die Entscheidung für ein Framework entwickelt sich bewusst aus Fragen zur Größe der Entwicklungsorganisation, zu Branche und Regulierung, zum angestrebten Produkt und möglichen Teilprodukten sowie zur bestehenden Agile-Reife. Wir helfen dabei, diese Daten zu analysieren und eine Vorgehensweise abzuleiten. Soll es ein bestimmtes Framework sein oder baut man sein eigenes Entwicklungsmodell – unabhängig von Frameworks?
Ein häufiger Fall aus der Praxis ist die Grundsteinlegung mit einem vorgegebenen Framework, das man dann individuell ans Unternehmen anpasst. Ein für das Change-Management wichtiger Aspekt: Die Anpassung des Frameworks erfolgt zusammen mit den Mitarbeitern. Wir begleiten den Prozess mit fachlichem Input und unserer Erfahrung. Wir stellen z. B. Szenarien der Skalierung auf und überprüfen sie gemeinsam mit den Mitarbeitern auf ihre Tragfähigkeit. Wir bieten neutrale Beratung und neutrale Produktauswahl, aber eben auch die Begleitung des eigentlichen Change. Denn mit einem agilen Framework allein schafft man noch keine agile Kultur.